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Von der Selbstwahrnehmung zur Selbstentfaltung: Mädchen in der Informatik

Im Interview erklärt Professorin Ute Schmid, wie wir durch gendersensible Ansätze im Informatikunterricht Mädchen dazu ermutigen können, ihre Interessen und Talente zu erforschen und zu entfalten. So können sie ihre Begabungen erkennen und nutzen, ohne durch gesellschaftliche oder äußere Erwartungen eingeschränkt zu werden.

Ute Schmid ist Professorin für Kognitive Systeme an der Universität Bamberg. Sie hat sich durch ihre Forschung in den Bereichen Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und deren Anwendung in der Bildung einen Namen gemacht. Ihr Engagement für die Förderung von Frauen in der Technik machen sie zu einer inspirierenden Person für Studierende und Kolleginnen und Kollegen gleichermaßen.

Dieses Interview wurde zur Unterstützung für die PIZ Schulen im Februar 2025 durchgeführt. Neben ihren Erfahrungen zum Thema gendersensibler Informatikunterricht geht es auch um den Werdegang von Professorin Ute Schmid und ihre aktuellen Forschungsprojekte.

Was hat Sie dazu motiviert, sich mit dem Thema gendersensibler Informatikunterricht zu beschäftigen?

Während meines Psychologiestudiums habe ich durch glückliche Zufälle entdeckt, dass Informatik etwas ist, was mir liegt, mir Spaß macht und mich sehr interessiert. Daraufhin habe ich gleich noch ein zweites Studium, nämlich Informatik angehängt. Als ich  später Professorin an der Universität Bamberg wurde, war ich die einzige Frau im Kollegium. Auch im Mittelbau gab es kaum Frauen und der Anteil von Studentinnen war unter 20 Prozent. Es ist klar, dass die Voraussetzung dafür, dass es mehr Dozentinnen im Mittelbau und mehr Professorinnen gibt ist, dass mehr Mädchen und junge Frauen ein Informatikstudium aufnehmen und natürlich auch erfolgreich abschließen. Meine persönliche Erfahrung gab mir die Motivation, mich für mehr Frauen in der Informatik einzusetzen. Mir ist wichtig, dass mehr Mädchen die Chance haben, ihre Neigungen und Begabungen in diesem Bereich zu entdecken und einen Beruf zu finden, der sie glücklich macht.  Weil ich selbst mein Glück in der Informatik gefunden habe, setze ich mich dafür ein, dass auch andere Mädchen und Frauen dieselbe Chance erhalten.

Welche spezifischen Aspekte des gendersensiblen Informatikunterrichts untersuchen Sie in Ihrer Forschung?

In einem früheren Forschungsprojekt habe ich mich mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Frauen im Informatikstudium befasst.

In einer empirischen Erhebung mit Studentinnen zeigte sich, dass die Studentinnen unserer Fakultät im Mittel eine deutlich bessere Mathematiknote im Abitur hatten, als die Studenten. Gleichzeitig zeigte sich aber, dass selbst junge Frauen, die sich bereits für ein Informatikstudium entschieden haben, sich häufig als weniger kompetent als ihre männlichen Kommilitonen einschätzen. Bei stichprobenartiger Prüfung einer zentralen Klausur ergab sich aber objektiv ein anderes Bild: Studentinnen hatten im Schnitt die bessere Note.

Aktuell arbeite ich im schulischen Kontext seit dem 1. März 2025 an dem BMBF-Projekt „MINT Pionierin“, das zum Ziel hat, Gymnasiastinnen ab 17 Jahren für MINT-Fächer und speziell für Informatikstudiengänge zu begeistern. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt meiner Forschung ist das Thema Role Models, auf das wir später noch genauer eingehen werden.

Wie wichtig ist die Rolle der Lehrkräfte bei der Schaffung eines gendersensiblen Lernumfelds, und welche Schulungen oder Ressourcen benötigen sie dafür?

Ich glaube, das Thema Role Models ist von großer Bedeutung. Denn wenn man als Mädchen in den MINT-Fächern oft männliche Lehrkräfte hat, dann kann das den Eindruck verstärken, dass diese Bereiche männlich dominiert sind. Auch wenn es immer noch zu wenige Informatiklehrerinnen gibt, sollten meiner Meinung nach Schulen darauf achten, dass es auch genügend weibliche Lehrkräfte in den MINT-Fächern gibt.

Zu den wertvollsten Role Models gehören die im persönlichen Kontext, z. B. die Tante, die Physikerin ist oder eine unheimlich coole Informatiklehrerin. Problematisch finde ich die Darstellung von „Superfrauen“ als Role Models, welche großartige Wissenschaftspreise gewonnen haben und nebenbei noch drei Kinder großgezogen haben. Diese vermitteln oft den Eindruck, das sind Frauen, die weit weg von dem sind, was ich erreichen kann. Nahbare Vorbilder zeigen den Mädchen, dass Frauen in diesen Bereichen erfolgreich sein können. Entsprechend binden wir in unsere Angebote für Schülerinnen oft Studentinnen ein. Besonders bewährt hat sich ein Format, bei dem Studentinnen über ihre Wege ins Informatikstudium und ihre Erfahrungen berichten.

Inwiefern beeinflussen gesellschaftliche Stereotypen über Geschlechterrollen das Interesse und die Leistung von Schülerinnen im Informatikunterricht?

Stereotype haben einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten und die Wahrnehmung von Mädchen in MINT-Fächern. Empirische Studien zeigen, dass gerade in der Pubertät Jungs wie Mädchen dazu neigen, eher stereotypere Rollenmodelle bedienen zu wollen. Was dazu führt, dass Mädchen häufig in dieser Phase das Interesse an MINT verlieren, weil sie sich in ihrer Geschlechterrolle finden und sich an Stereotype klammern. Deshalb bieten wir Workshops ab der Vorschule über die ganze Entwicklungsspanne an, die helfen sollen, Mädchen frühzeitig für MINT zu begeistern und sie während der kritischen Phase der Pubertät zu unterstützen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Mädchen bei MINT-Fächern häufiger dazu neigen, Erfolge auf Fleiß zu attribuieren und Misserfolge auf fehlende Begabung. Lehrkräfte sollten daher in ihrer Ausbildung dafür sensibilisiert werden. Ich glaube gerade Mädchen brauchen in Fächern wie beispielsweise Informatik explizites Feedback, wie „dein Programm war am allerbesten umgesetzt“, wenn sie etwas gut gemacht haben, da Mädchen oft gar nicht wahrnehmen, dass sie da überdurchschnittlich gut sind.

Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Implementierung eines gendersensiblen Ansatzes im Informatikunterricht an Schulen?

Ein sehr offensichtlicher Punkt, wenn es um gendersensible Informatik geht, ist, Themen zu wählen , die auch Mädchen interessieren, ohne aber in stereotype Muster zu verfallen. Man sollte sich eher überlegen, neutrale Themen zu nehmen, von denen man annehmen kann, dass sie alle Geschlechter interessieren.

Wir machen z. B. einen Scratch-Workshop für die Grundschule 3. Klasse, in dem die Schülerinnen und Schüler mit Scratch eine interaktive Geschichte oder ein Spiel programmieren. Hierbei gibt es mehrere didaktischen Herausforderungen bei der Vermittlung von Informatikkenntnissen. Erstens wollen Mädchen nicht mit den Jungen in einem Team arbeiten. Das Zweite ist, dass Jungs stereotyp viel ausprobieren, sie hören nach drei Minuten nicht mehr zu und fangen an auszuprobieren, wie Scratch funktioniert. Die Mädchen dagegen hören gut zu, diskutieren anschließend und machen sich einen Plan, nach dem sie dann auch vorgehen. Bei Problemen melden sie sich und fragen nach. Nach zwei Stunden haben eher die Mädchen ein fertiges Programm als die Jungs. Allerdings ist es auch so, dass meist die Jungs Spiele programmieren und die Mädchen eine interaktive Geschichte. Ein Problem hierbei ist, dass man beim Spiele Programmieren Variablen braucht, weil man einen Punktestand erfassen will, und bei der Geschichte eher nicht. Dennoch sollen alle Schülerinnen und Schüler das Konzept der Variablen kennenlernen. Ich persönlich sage den Mädchengruppen dann immer, könnt ihr vielleicht mitzählen lassen, wie oft die Hexe den Drachen trifft und schon brauchen sie eine Variable. Das verlangt tatsächlich viel Mitdenken, deshalb ist es wichtig sich zu überlegen, was möchte ich vermitteln und wie setze ich es um, damit alle Unterrichtsinhalte gelernt werden.

Können Sie einige Good/Best Practices oder erfolgreiche Ansätze nennen, die in der Praxis umgesetzt wurden, um Geschlechtergerechtigkeit im Informatikunterricht zu fördern?

Das Wichtigste ist es möglichst frühzeitig und kontinuierlich mit der Informatikbildung zu beginnen, insbesondere vor und während der Pubertät.

Mädchen im kritischen Alter der Pubertät sollte der Freiraum gegeben werden, ohne Jungs zu lernen oder sich auszuprobieren, um ihre Fähigkeiten zu entdecken und Erfolgserlebnisse zu sammeln.

Man sollte generell die Kinder darin bestärken, was sie gut können und explizit Rückmeldung geben. Aber für Mädchen im MINT-Bereich ist das positive Feedback besonders wichtig. Außerdem empfehle ich Themen auszuwählen, die genderneutral sind und auch Mädchen ansprechen können.

Welche Rolle spielen technologische Tools und Plattformen dabei, einen gendersensiblen Unterricht zu gestalten? Gibt es spezielle Software oder Apps, die Sie empfehlen würden?

Ich glaube es liegt nicht am Tool, sondern eher an den Themen.

Trotzdem würde ich sagen, dass z. B. Open Roberta für die jüngeren Schülerinnen und Schüler interessant ist. Außerdem ist es Made in Germany und wir haben mit dessen Team einen kleinen Baustein über neuronale Netze mitentwickelt, der jetzt in Open Roberta eingesetzt wird. Lego interessiert nach meinen Erfahrungen Mädchen noch in der fünften und sechsten Klasse und danach nicht mehr.

Ein weiteres Tool ist Scratch, welches eine sehr mächtige Sprache ist, die viel kann und auch für Erwachsene großartige Möglichkeiten bietet.

Unabhängig von der Mädchenförderung besteht hierbei die Herausforderung, einen Übergang von einer ereignisbasierten Programmierung in Scratch zu einer kontrollstrukturorientierten Programmierung zu bekommen. Dabei ist das didaktische Konzept wichtig, das in den Schulen umgesetzt wird.

Welche langfristigen Auswirkungen erwarten Sie von einem gendersensiblen Informatikunterricht auf die Berufswahl und Karrierewege von Schülerinnen und Schülern?

Meines Wissens gibt es bisher keine systematischen Erhebungen über langfristige Effekte. Dennoch haben wir aus unseren empirischen Erhebungen und persönlichen Rückmeldungen gelernt, dass es für viele unserer Studentinnen von Bedeutung war, dass sie bereits vor ihrem Studium Berührung mit der Informatik hatten und Informatik-Workshops bei uns besucht haben, die ihnen Spaß gemacht haben und gezeigt haben, dass sie Informatikthemen spannend finden.  Solche Erfahrungen prägen und motivieren die Teilnehmerinnen, was auch von unseren Studentinnen in Befragungen zur Motivation ein Informatikstudium aufzunehmen berichtet wird.  Außerschulischen Workshops bieten dabei den Vorteil, dass es einerseits mehr Freiheiten gibt und zum anderen einen stärkeren Fokus auf intrinsische Motivation legt.

Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung des gendersensiblen Informatikunterrichts? Gibt es Trends oder Veränderungen, die Sie beobachten?

Tatsächlich nimmt der Anteil von Studentinnen in der Informatik an deutschen Universitäten schon seit einigen Jahren zu, obwohl er derzeit bei nur etwa 20 bis 22 % liegt – bei uns in Bamberg bei um die 30 %. Für die Zukunft hoffe ich, dass es sich stetig so weiterentwickelt. Es gibt positive Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz und Data Science, wo zunehmend Frauen vertreten sind. Und vor allem der Bereich Data Science zieht häufig mehr Frauen an, da er oft mit anwendungsbezogenen Fächern, etwa im Bereich Medizin oder Umwelt, gepaart ist. In  unserem Masterstudiengang „Computing in the Humanities“ haben wir einen Frauenanteil von über 50 %. Dies ist ein Master speziell für Studierende mit einem Bachelor-Abschluss in Geistes-, Human- oder Sozialwissenschaften. Frauen trauen sich also häufig erst später zu, Informatik zu studieren oder entdecken das Thema erst später. Auch besetzen zunehmend Absolventinnen verantwortungsvolle Positionen in der Softwareentwicklung und nicht im Marketing oder im Personal.

Welche konkreten Empfehlungen würden Sie Schulen geben, um einen inklusiveren und gendersensibleren Informatikunterricht zu gestalten?

Meine Empfehlung ist mehr Lehrerinnen in der Informatik einzusetzen oder gezielt nahbare Role Models einzuladen, wie z. B. Informatikstudentinnen, die selbst erst im Bachelor-Studium sind, da diese sich besser mit Schülerinnen identifizieren können als Professorinnen oder Doktorandinnen. Sie können authentische Einblicke in das Informatikstudium geben und Fragen beantworten, die für Schülerinnen relevant sind, wie beispielsweise „wie kamst du dazu“, „was gefällt dir am Studium“ oder „wo gibt es Probleme“.

Das Nächste ist, die Lehrkräfte zu sensibilisieren, damit sie Mädchen in MINT-Fächern gezielt positives Feedback zu ihren Leistungen geben.

Und das Dritte ist, Themen zu wählen, die für alle Geschlechter interessant sind.

Worum es mir bei allem geht ist, dass die Mädchen ihre eigenen Neigungen und Begabungen wirklich entdecken können und sich nicht selbst den Weg durch eine verzerrte Selbstwahrnehmung verstellen.

Abschließend gilt unser Dank Frau Prof. Dr. Ute Schmid, die sich bereit erklärt hat, das Interview zu führen. Für ihre hilfreichen Anmerkungen möchten wir uns recht herzlich bedanken. Wir freuen uns darauf, von ihren Erfahrungen zu lernen und diese in der Praxis umzusetzen.

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